Die Geschichte der Auberge de L’Assesseur

Im Internet empfehlen sogar Booking.com und Trip Advisor die Auberge Chez L’Assesseur, über ihre bewegte und aufregende Geschichte aber erfährt man im Internet nichts. Meine Recherche stützt sich deshalb auf Oral History – auf mündliche Geschichtsschreibung: Ich habe Adrian von Weissenfluh, den Gastgeber der Auberge interviewt. Erstmals erwähnt wird die Existenz dieses Gebäudes im Jahr 1536. Ein Assessor oder Assesseur ist ein höherer Beamter und Verwalter. Oder im Mittelalter: ein Landvogt. Hier residierte einst ein solcher, und er hat hier ein Jurabauernhaus zu einem Gasthof, einer Herberge umgebaut.

Der oberste Chef des Assesseurs war der Fürstbischof von Basel, und damit sind wir mittendrin in der grossen Weltgeschichte. Die Region hier war nämlich nicht nur in den letzten 100 Jahren ein Zankapfel zwischen Bernern und jurassischen Separatisten (wir sind hier noch knapp im Kanton Bern, in äussersten Zipfel nahe an der Grenze zu den Kantonen Jura und Neuenburg). Schon vorher gab es ein Gezerre um die Gegend. Der König von Frankreich schielte von Norden in den Jura, die alte Patrizierrepublik Bern von Süden. Aber fast 400 Jahre lang konnte sich der Bischof von Basel in der Region behaupten. Nach der Basler Reformation 1521 musste er zwar Basel verlassen und umziehen auf Schloss Porrentruy, von dort aus aber konnte er sein katholisches Hinterland im Jura als Fürstentum aufrechterhalten.

Der Assesseur hier oben auf dem Mont-Soleil-Plateau trieb im Auftrag des Fürstbistums nach 1536 bei den umliegenden Bauern den so genannten Zehnten ein: eine Steuer in Form von Naturalien, also Getreide, Tiere etc. Der Hof wurde zur Vogtei, zum Lager, mit den Naturalien betrieb der Assesseur dann eine Herberge. Warum hier? Weil hier offenbar auch ein Handelsweg von der Alten Eidgenossenschaft ins französische Burgund verlief und Handelsleute mit ihren Lasttieren Station machten. Der schöne alte Specksteinboden im Eingangsflur des Hotels stammt noch aus dem 16. Jahrhundert. Der Assesseur hat den ursprünglichen Bauernhof dann Stück für Stück erweitert. Man erkennt noch das Outfit eines Jura-Bauernhofs, er ist aber mehrstöckig, was für ein Jurahaus untypisch und in der Umgebung selten ist. Der Bau war ein architektonisches Statement. Er signalisiert den Besuchern: ich bin ein Herrenhaus, ein Leuchtturm, bitte Ehrfurcht.

Die Weltgeschichte zu spüren bekam die Auberge Chez L’Assesseur dann erneut ab 1712. Ein kurze Rückblende: Im alten Bern obsiegte 1528 die Reformation. Nun gab es aber Gläubige, die zwar nicht katholisch bleiben wollten, die aber auch nicht Reformierte sein wollten. Nicht weil ihnen die Reformation zu weit, sondern weil sie ihnen zu wenig weit ging: Die Täufer. Sie sahen sich als Verfechter eines wahren Christentums, verweigerten die Kindertaufe und den Kriegsdienst und konstituierten sich als Freikirche. Die Berner Herren sahen in den Täufern eine gefährliche, rebellische Organisation und verfolgten sie unerbittlich. Ab 1534 wurden die Täufer vertrieben, ausgewiesen und hingerichtet. Erst flohen sie ins ländliche Emmental oder ins Berner Oberland, dann ins französische Elsass und bald mit Auswandererschiffen nach Amerika, wo sie sich heute Mennoniten nennen.

1712 vertrieb Frankreichs König Louis Quatorze die Täufer aus dem Elsass. Eines der letzten Exile, das sich ihnen öffnete, war das Fürstbistum Basel hier im Jura. Der Bischof erlaubte den Täufern, sich auf den kahlen Jurahöhen anzusiedeln, wo sie Wald rodeten, um Weiden und Äcker zu gewinnen. Und so liessen sich hier oben auf dem Plateau des Mont Soleil und der Freiberge diese gotttesfürchtigen, deutschsprachigen und fleissigen Bauerleute nieder. Ihr Beitrag an den Zehnten für unseren Asssesseur dürfte beträchtlich gewesen, das Bruttosozialprodukt der Region markant gestiegen sein. Noch heute gibt es in den Kantonen Bern und Jura rund 2000 Täufer in 11 Mennonitengemeinden. ZB die Täufergemeinde La Chaux d’Abel, in der Umgebung der Auberge. Laut Adrian von Weissenfluh will man hier oben aber nicht darüber sprechen. Wie auch immer: Aus den USA kommen mittlerweile Täufer hierher, um ihre Wurzeln zu suchen, und kulturell interessierte Wanderer folgen dem Täuferweg. Das fantastische alte Hotelinterieur des Gasthofs stammt aus diesem aufregenden 18. Jahrhundert.

1815, nach Napoleons Niederlage und dem Abzug seiner Truppen aus der alten Schweiz und dem Jura, wurde die Gegend noch einmal von der grossen Geschichte überrollt. Das katholische Fürstbistum Basel wurde nämlich am Wiener Kongress von den Grossmächten dem reformierten  Kanton Bern zugeteilt. Als Entschädigung für den Verlust der Waadt und des Aargaus. Berner und Jurassier wurden nie recht warm miteinander, wie wir wissen. Die Sprache und die Konfession trennten sie. Und die Täufer hatten einen Schreck, wieder unter der Fuchtel ihrer einstigen Verfolger zu stehen. 1820 wurden sie dann mit Einschränkungen von Bern anerkannt. Die Jahrzahl 1820 ist auch über der Eingangstür der Auberge in die Fassade eingraviert, aber das dürfte ein Zufall und das Jahr eines Umbaus in der Auberge sein. Seit 1848 sind die Täufer durch die Religionsfreiheit geschützt, die in der Schweizer Bundesverfassung garantiert ist. Und so sind sie hier oben geblieben. Im Jurakonflikt standen sie als Deutschsprachige übrigens gar auf der Berner Seite.

Der Gasthof zum Assessor überstand alle Wirren, baute eine Pferderdezucht auf und empfängt heute auch im Winter Gäste auf Langlaufskiern. Er ist eine Art Zeitkapsel, in der man das Auf und Ab der Vergangenheit und das langwierige Vergehen der Zeit spürt.

Stefan von Bergen, August 2018
Journalist und Historiker, Bern